Die Umweltkatastrophe in der Oder im Sommer 2022

Eine Chronik der Ereignisse und der Erforschung ihrer Ursachen
Bilder ungeheurer Mengen toter Fische aller Arten und Größen erschütterten im August 2022 die deutsche, polnische und internationale Öffentlichkeit. Etwa 300 Flusskilometer waren betroffen; nicht nur Fische, auch Muscheln, Schnecken und andere Weichtiere starben in der Oder. Die Chronik einer menschengemachten Umweltkatastrophe.

Hunderte Tonnen toter Fische trieben Anfang August 2022 in der Oder. © Luc De Meester/IGB

Eine tödliche Welle erfasst die Oder

9. August 2022

Eine Welle toter Fische erreicht den Grenzfluss. Zuvor – Ende Juli – war es bereits auf polnischem Gebiet vereinzelt zu Fischsterben gekommen. Die Stadtverwaltung Frankfurt/Oder warnt daraufhin ihre Bevölkerung vor dem Kontakt mit dem Oderwasser und dem Verzehr von Fischen aus dem Fluss. Dann geht alles ganz schnell: Binnen zwei Wochen treiben hunderte Tonnen Fischkadaver auf dem Fluss. Über 200 Tonnen werden davon geborgen, weitaus mehr sinken auf den Grund oder werden in den Ufersaum gespült. Die Tiere zeigen Erstickungssymptome.

Ein Verdacht erhärtet sich: Forschende identifizieren die Brackwasseralge Prymnesium parvum

15. August 2022 

Die Messdaten des Landesamts für Umwelt Brandenburg (LfU) am Pegel in Frankfurt/Oder zeigen ein ungewöhnliches Bild: „Die Sauerstoffkonzentrationen lagen deutlich über 100% Sättigung, der pH-Wert war erhöht. Zugleich stellten wir starke Schwankungen im Tagesverlauf fest“, erklärt Jan Köhler, Algenspezialist am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). „Solche Werte sind nur durch Photosynthese erklärbar. Das hieß für uns, dass wir es mit einer massiven Algenblüte zu tun haben mussten.“ Unklar ist zunächst, was es mit den hohen elektrischen Leitfähigkeiten auf sich hat, der Wert steigt von 800 auf über 2.000 Mikrosiemens pro Zentimeter (µS/cm) – so hohe Werte können in einem Fluss nur durch industrielle Salzeinleitungen entstehen.

IGB-Forschende beginnen umgehend, Proben auszuwerten, den Pigmentgehalt und die Fitness der Algen zu messen, Fotos zu machen und Proben für genetische Analysen zu konservieren. Was sie finden, ist für Süßgewässer in Europa mehr als ungewöhnlich: hohe Konzentrationen von Prymnesium parvum, einer Brackwasseralge. Diese Algenart ist dafür bekannt, ein starkes Gift zu bilden, das Schleimhäute und dünne Blutgefäße angreift und insbesondere Fische sowie Weichtiere ersticken lässt. Bei geringen Fließgeschwindigkeiten, viel Licht, warmem Wasser und vergleichsweise hohen Salz- und Nährstofffrachten im Fluss kann sie sich massiv ausbreiten. Das Salz erweist sich wenig später als Natriumchlorid – übliches „Kochsalz“. 

19. August 2022

Das IGB kann Prymnesium parvum in allen Proben aus der mittleren Oder nachweisen und mikroskopisch identifizieren. Für den Toxinnachweis werden die Proben an eine Kollegin des Instituts für Lebensmittelchemie und Toxikologie der Universität Wien geschickt. „Wir konnten eine Unterart des Algengiftes, der sogenannten ,Prymnesine', zweifelsfrei und in signifikanten Mengen in Oderproben von verschiedenen Standorten nachweisen“, erklärt die Wissenschaftlerin Elisabeth Varga von der Universität Wien. Vom IGB durchgeführte Tests an Fischeiern mit dem Oderwasser bestätigen die tödliche Wirkung des Gifts.

Aufgrund der bis dahin gesammelten Erkenntnisse sind die Forschenden überzeugt, dass kein natürliches Phänomen vorliegt. „So eine Massenentwicklung wurde nach meinem Wissen noch nie in unseren Gewässern beobachtet“, sagt Jan Köhler. „Ohne Einleitungen von Salzen und Nährstoffen und den Aufstau des Flusses wäre es nicht zu dieser Katastrophe gekommen.“

Ein weiteres Indiz: Satellitendaten bestätigen eine massive Algenblüte

31. August 2022

Der IGB-Wissenschaftler Tobias Goldhammer hat mit Kolleg*innen von der Universität Leipzig und von Brockmann Consult, einem Unternehmen für Umweltdatenanalyse und -software aus Hamburg, Daten des Copernicus-Satelliten Sentinel-2 ausgewertet. Sie suchten darin nach frühen Anzeichen der Algenblüte und wollen die zeitlich-räumliche Entwicklung rekonstruieren. Aus den prozessierten Roh-Satellitendaten lassen sich Chlorophyll-Konzentrationen berechnen, die die Algenblüte anzeigen. Der Datensatz ist nun vollständig und zeigt: Während in der zweiten Julihälfte die Konzentrationen im gesamten Flusslauf noch auf einem mittleren Niveau liegen, sind sie im Oberlauf um die Stadt Opole (Polen) bereits erhöht. Anfang August steigt die Chlorophyll-Konzentration auf der Höhe von Wrocław (Polen) sprunghaft an. Danach kommt es zu einer sehr schnellen Ausbreitung der Blüte, die binnen einer Woche fast die gesamte Oder umfasst. Erst Ende August erreichen die Chlorophyll-Konzentrationen wieder das mittlere Niveau von Anfang Juli.

Zur Umweltkatastrophe kommt es nach der Analyse der Forschenden infolge mehrerer Belastungsfaktoren, die allesamt durch menschliches Handeln verursacht wurden. Dazu gehören auch Ausbaumaßnahmen, die bereits die natürliche Widerstandsfähigkeit des Flusses gegenüber hydrologischen und klimatischen Veränderungen reduziert hatten: „Wir verstehen die Oder-Katastrophe als multikausales, von Menschen verursachtes Ereignis. Erhöhte Salzgehalte durch industrielle Belastungen im Oberlauf traten auch in der Vergangenheit öfter in der Oder auf, ohne dass es zu solch massiven Algenblüten gekommen wäre. Die Rahmenbedingungen scheinen sich jetzt aber geändert zu haben“, erklärt Tobias Goldhammer.

Eine erste Probebefischung dokumentiert massiv gesunkene Fischbestände

27. September bis 19. Oktober 2022 

Um sich einen besseren Überblick über den verbliebenen Fischbestand zu verschaffen, führt das IGB mehrere wissenschaftliche Probebefischungen durch. Deren Ergebnisse sind ernüchternd: Arten wie Quappe und Steinbeißer, Blei und Güster haben massive Verluste erlitten. Größere Fische von 10 Zentimeter Körperlänge oder größer gibt es kaum noch.

Sorgen bereitet den Forschenden insbesondere der Baltische Goldsteinbeißer, der in Deutschland ausschließlich in der Oder vorkommt. Die einzige bekannte, stabile Population bei Reitwein umfasste geschätzt rund 500 Tiere. Dort kann kein einziges Tier mehr nachgewiesen werden. Dafür findet das IGB-Team zehn Exemplare bei Ratzdorf sowie ein Einzeltier in der unteren Neiße. „Ob die Tiere vor der Giftwelle aus stromauf gelegenen Beständen geflohen und eingewandert sind oder ob es eine schon länger bestehende stabile Population ist, und seit wann die Tiere dort schon vorkommen, wissen wir nicht“, sagt Fischökologe Christian Wolter.

Ebenfalls im Oktober zeigen die Messpegel des LfU in Frankfurt/Oder erneut eine stark erhöhte Leitfähigkeit an, obwohl mehr Wasser als in den Sommermonaten in der Oder fließt. Das bedeutet: Es sind noch höhere Salzmengen als zu akuten Katastrophenzeiten im Fluss.

Von Erholung vorerst keine Spur – Salzfrachten bleiben zu hoch

29. November 2022 

Nach ersten wissenschaftlichen Probebefischungen im Uferbereich im September und Oktober findet nun die erste umfangreiche Befischung der Strommitte der Oder nach der Katastrophe statt. Diese Bestandsaufnahme ist ernüchternd: Die Wissenschaftler fangen deutlich weniger Fisch, Arten wie Zope und Rapfen fehlten ganz. Insgesamt gehen nur halb so viele Fische ins Netz wie im Durchschnitt der Vorjahre. Nicht nur Fische fehlen: Auch Muscheln und Schnecken sind kaum noch vorhanden. „Schon Daten vom August lieferten uns Hinweise darauf, dass die Muscheln durch die Oder-Katastrophe um die Hälfte ihrer Biomasse reduziert wurden“, sagt Christian Wolter. Sie sind die wichtigsten Filtrierer im Ökosystem. „Es wird noch sehr lange dauern, bis die Bestände wiederaufgebaut sind, denn Muscheln sind nicht so mobil, um zügig aus Refugien wieder einzuwandern. Dies gilt insbesondere für die einheimischen Großmuscheln, die auch in Konkurrenz zu invasiven Muschelarten stehen“, so der Ökologe.

Messungen der Leitfähigkeit während der Befischung zeigen erneut, dass die Salzgehalte für das Flussökosystem deutlich zu hoch sind. Am Pegel Frankfurt/Oder liegt die Leitfähigkeit bereits seit Mitte November bei über 1.900 µS/cm, Ende November sind es sogar über 2.000 µS/cm. Der Hauptbestandteil der Salzfracht ist nach wie vor Natriumchlorid.

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